Londons Premier Keir Starmer füllt das deutsches Vakuum

 

Fünf Jahre nach dem Brexit übernimmt ausgerechnet London die Führungsrolle in Europa. Starmer wächst vom Pannenpremier zum Europa-Star. Er sucht seit Wochen das Gespräch mit Macron und Merz. Die drei haben größere Pläne.

Keir Starmer zeigt Donald Trump, wie der Westen eigentlich geführt werden sollte. Nach dem Erniedrigungs-Eklat im Weißen Haus hat der britische Premier die europäischen Staatschefs zum großen Solidaritätstreffen mit der Ukraine eingeladen. Der Kontrast der diplomatischen Inszenierung könnte kaum größer sein: Dort Ruchlosigkeit, hier Würde. Dort Ruppigkeit, hier Verbindlichkeit. Dort Isolationalismus, hier Multilateralismus. Dort Egoismus, hier Solidarität.

Ausgerechnet die Briten wachsen fünf Jahre nach dem Brexit in die Führungsrolle für den alten Kontinent: Das Nicht-EU-Mitgliedsland eint die Union und öffnet den Raum einer neuen, selbstbewussten europäischen Gesinnung. In der neuen Weltordnung mit ihren Cowboy-, Despoten- und Mafiamethoden wirken die Briten auf eine wohltuend altmodische Weise europäisch, demokratisch, verlässlich und integer.

Die neue Führungsrolle hat auch mit Keir Starmer zu tun. Der britische Premierminister hat, was der amerikanische Präsident vermissen lässt – Integrität und Respekt. Er wirkte bislang eher wie eine hölzerne Randfigur Europas. Seine Labour-Regierung stolperte mehr umher, als dass sie souverän regierte, eine Reihe kleiner Skandälchen von Vorteilsannahmen schwächte die Regierung, seine Stabschefin musste gehen. Als er dann die Kürzung von Heizungszulagen für Rentner beschloss, sackten die Umfragewerte ab. Starmers Wort vom „broken Britain“ fiel auf ihn zurück. Zum Jahreswechsel musste er fast trotzig erklären: „Ich lege keinen Wert darauf, beliebt zu sein.“

Doch nun ist der graumäusige Pescetarier, (Starmer ist Halb-Vegetarier, der gern Fisch ist) schlagartig in ganz Europa beliebt geworden. Die außenpolitische Krise nutzt Starmer geschickt, um an Ansehen zu gewinnen. Tatsächlich wirkt der anfänglich unsichere Premier plötzlich wie ein souveräner weltpolitischer Akteur. Er gibt den verunsicherten und von den USA enttäuschten Europäern ein freundliches Gesicht.

Starmer spielt aber nicht bloß den versöhnlichen Umarmer, er geht mit gutem Beispiel voran und will seine Verteidigungsausgaben auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigern. Der Ukraine bewilligt er neue Gelder in Milliardenhöhe und kündigt sogar an, dass Großbritannien Friedenstruppen schicken würde.

Bei der Sitzordnung des Gipfels und dem offiziellen Abschlussfoto in London ist demonstrativ arrangiert, wer derzeit die Anführer Europas sind: Keir Starmer und Emmanuel Macron. Die beiden sprechen sich seit Wochen eng ab und zeigen militärisches Selbstbewusstsein als Europas Atomschutzmächte.

 

Europa kann auch einen Handelskonflikt mit den USA aushalten

 

Die Konstellation offenbart zugleich, dass Deutschland seit Monaten eine große außenpolitische Lücke lässt und mit sich selbst beschäftigt ist. Bundeskanzler Scholz wird schon seit November in Europa nicht mehr ernst genommen. Sowohl Starmer als auch Macron haben stattdessen früh damit begonnen, direkte Kontakte zu Friedrich Merz zu suchen. Der desiginierte Bundeskanzler ist sich mit beiden einig, dass nun die Stunde Europas schlage und man einen historischen Schritt zur europäischen Sicherheitsunion gehen müsse. Merz hat auch das Thema der atomaren Bewaffnung und Abschreckung für Deutschland adressiert und wünscht sich eine Wiederannäherung Großbritanniens an die Europäische Union.

Darum bestärkt der CDU-Chef nun Starmer, das Haus Europa wieder gemeinsam zu bauen: „Ich begrüße es sehr, dass Großbritannien wieder die Nähe zu Europa, zur Europäischen Union sucht.“

Starmer, Macron und Merz treten für ein deutlich selbstbewussteres Europa ein. Ihr Argument: In der EU leben mehr als 448 Millionen Menschen, in den USA nur 340 Millionen. Die EU ist der weltweit größte Exporteur von Fertigerzeugnissen und Dienstleistungen. Der Welthandelsanteil der EU liegt bei 13,7 Prozent, die USA kommen nur auf 10,4 Prozent. Die EU erwirtschaftet ein Bruttoinlandsprodukt von 17 Billionen Euro. Das militärisch aggressive Russland kommt nur auf 2 Billionen. Wirtschaftlich ist die EU also achtmal stärker als Russland. Europa habe alle Trümpfe selbst in der Hand, sich und die Ukraine zu verteidigen und auch einen Handelskonflikt mit den USA erfolgreich zu bestehen – nur müsse man sich endlich politisch enger formieren. Der Neo-Europäer Starmer formuliert das so: „Europas Zersplitterung schwächt uns alle. Lassen Sie uns also das industrielle Gewicht und die Schlagkraft, die wir gemeinsam haben, maximieren.“

Jetzt zum Newsletter anmelden

Jetzt zum Newsletter anmelden