Die Welt sollte den Kurden endlich einen unabhängigen Staat ermöglichen. Der ist moralisch und historisch längst überfällig. Gegen den Terror des IS und für die Stabilität im Nahen Osten wäre das ein kluges Projekt.
Die Kurden sind das größte Volk der Welt ohne einen eigenen Staat. Zwangsaufgeteilt in vier Ländern leben die rund 35 Millionen Kurden unter schwierigen bis katastrophalen Verhältnissen. Es wird Zeit, dass sich das ändert: Durch den Zerfall Syriens wie Iraks und den Aufstieg des IS-Terror-Kalifats wird die Gründung eines stabilen Kurdenstaates zu einer positiven Option des Weltpolitik. Und zwar aus drei Gründen.
Erstens haben die Kurden ihren eigenen Staat moralisch und historisch längst verdient. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker wird in ihrem Fall seit Jahrzehnten systematisch negiert. Dabei war ihnen nach Ende des Ersten Weltkrieges und der Aufteilung des Osmanisches Reiches im Vertrag von Sèvres (1920) die staatliche Unabhängigkeit versprochen worden.
Die kurdischen Kämpfer im Überblick?
Peschmerga:
Im Irak stellt sich vor allem die Peschmerga den Dschihadisten entgegen, um die kurdische Autonomieregion im Norden zu schützen. Der Name der Armee bedeutet in etwa „Jene, die dem Tod ins Auge sehen“. Die Streitkräfte gingen aus bewaffneten Einheiten insbesondere der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) im Nordirak hervor. Experten gehen von etwa 130.000 bis 200.000 Kämpfern aus. Viele unterstehen der kurdischen Regionalregierung.
YPG:
In Nordsyrien kämpfen derzeit insbesondere die kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) gegen die IS-Extremisten. Sie sind mit der syrisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) verbunden und wollen ihre drei „autonomen Kantone“ schützen, die nach dem Rückzug der syrischen Regierungstruppen in den überwiegend von Kurden bewohnten Regionen errichtet wurden.
PKK:
Volksschutzeinheiten und PYD stehen der kurdischen Arbeiterpartei PKK nahe, die in der Türkei verboten ist und auch in europäischen Ländern und den USA auf der Terrorliste steht. Experten gehen davon aus, dass PKK-Kämpfer die syrischen Kurden unterstützen.
Doch es kam nie dazu. Nachdem Mustafa Kemal Atatürk die türkische Republik ausgerufen hatte, wurden die Kurden systematisch unterdrückt. Aber auch in Syrien, Iran und Irak blieben sie über Jahrzehnte ihrer grundlegenden Rechte beraubt und diskriminiert. Das Dauer-Unrecht an den Kurden schwankte zwischen systematischer Benachteiligung und blankem Terror. So verfolgte Saddam Hussein sie grausam, am Ende sogar mit Giftgas-Massenmorden. Allein in Halabdscha kamen mehr als 5000 Menschen um. Hunderte Dörfer wurden zerstört.
In der Türkei wiederum war bis vor einigen Jahren sogar der Gebrauch der kurdischen Sprache verboten. Im bewaffneten Kampf der kurdischen Untergrundorganisation PKK kamen mehr als 35.000 Menschen um. Die Türkei ging später auf die Kurden zu, verbesserte ihre Rechte als Minderheit. Doch erst nach dem Golfkrieg 1991 keimte für die Kurden die Hoffnung auf einen eigenen Staat, nachdem die Uno im Irak nördlich des 36. Breitengrades eine Schutzzone einrichtete. Sie war der Kern einer Autonomieregion mit eigener Regierung und eigenem Parlament. Kurzum: Die Kurden sind ein geprügeltes, geschundenes Volk, das seit Generationen tapfer um das Recht auf den eigenen Staat kämpft. Das Selbstbestimmungsrecht sollte endlich auch für sie gelten.
Der zweite Grund für die Gründung eines Kurdenstaates ist politischer Natur und liegt darin, dass die Staatenordnung im Nahen Osten zerfällt. Weder Syrien noch Irak existieren noch. Beide Staaten sind implodiert und versinken in Dauerbürgerkriegen. Mit jedem Monat wird klarer, dass die Willkürgrenzen der einstigen Kolonialmächte wohl nie wieder stabile Staaten umreißen werden. Das doppelte Machtvakuum von Bagdad und Damaskus ermöglicht es dagegen den radikalislamischen Terrorgruppen erst, sich ungeahnte Bastionen aufzubauen.
Eine neue Grenzziehung steht auf der Agenda
Die Weltöffentlichkeit wird sich also – jenseits der Taktik, wie man den IS-Terror am besten militärisch bekämpft – mit der Strategie beschäftigen müssen, wie die Staatenordnung künftig aussehen soll. Eine neue Grenzziehung steht auf der Agenda und sollte endlich offen diskutiert werden. Was bislang nur Militärstrategen und Diplomaten in Geheimzirkeln abwägen, gehört in offene Verhandlungen um einen politischen Masterplan. Es wird nicht hinreichen, den Kurden Waffen zu liefern, Assad zu boykottieren, Flüchtlinge aufzunehmen und vor den IS-Schergen Angst zu haben. Eine neue Staatsordnung wird zusehends zwingende Notwendigkeit für Frieden und langfristige Stabilität.
Das dritte Argument für einen neuen Kurdenstaat liegt in der Tatsache, dass mit diesem das IS-Terrorkalifat am wirksamsten bekämpft werden kann. Schon jetzt tragen die Kurden die Hauptlast im Frontkampf gegen den IS alleine. Ein eigener, starker Staat würde wie eine Pufferzone zwischen Sunniten und Schiitten, zwischen westlichen und islamischen Interessen fungieren können. Er könnte ein Element für die dringend nötige Stabilität der Chaos-Region werden. Die kurdische Regionalregierung hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten bewiesen, dass sie sogar einen demokratisch-pluralistischen Staat gestalten und relativen Wohlstand gewähren kann.
Schon jetzt sind die Kurden eine westlich orientierte Ordnungsmacht, eine Insel der Ordnung im chaotischen Post-Irak. Es ist also im Interesse des Westens, einen stabilen, alliierten Staat mitten im Brennpunkt der Konfliktlinien zu gewinnen. Und zwar einen, der aus autonomer Kultur die staatliche Integrität wahrt, und nicht weil Diktatoren oder Religionsfanatiker einen Kunststaat mit Gewalt erzwingen.
Inzwischen sind auch die Türkei und Iran offener für einen selbständigen Kurdenstaat als vor wenigen Jahren – solange er ihr eigenes Staatsgebiet nicht tangiert. Kurdistan im Nordirak und Nordsyrien könnte auch ihnen als dauerhaftes Bollwerk gegen die Bedrohung durch den IS fungieren. Teheran hat bereits damit begonnen, die ehemals feindlichen Peschmerga-Kämpfer im Nord-Irak zu unterstützen. Die beiden wichtigsten Regionalmächte, die die Kurden über Jahrzehnte hinweg bekämpft haben, würden jedenfalls den neuen Staat nicht mehr unbedingt verhindern.
Fazit: Ein eigenständiger Kurdenstaat ist moralisch fällig, historisch überfällig, politisch möglich und sicherheitsstrategisch nötig. Kurden-Präsident Masud Barzani hat völlig Recht, wenn er dem US-Außenminister John Kerry bei dessen Besuch in Erbil zuruft: „Es ist Zeit für die Kurden, ihre Zukunft selbst zu bestimmen.“ Die Kurden verdienen Unterstützung in ihrem Streben nach Unabhängigkeit. Ihretwegen und unseretwegen.