Der Thüringer SPD-Pakt mit der Linkspartei hat strategische Bedeutung für Deutschland. Sigmar Gabriel entstigmatisiert die SED-Nachfolger und eröffnet sich neue Optionen.
Die SPD-Führung in Berlin reagiert wie das Schulkind, das mit der Hand im Marmeladeglas erwischt wird. Unschuld mimend wird laut verkündet: Das hat nichts zu bedeuten. Die Entscheidung für Rot-rot-grün in Thüringen sei „kein Signal für Berlin“, habe „keine bundespolitischen Konsequenzen“, völlig einerlei sei das Ganze – als flöge ein harmloser Spatz durch den Thüringer Wald.
In Wahrheit ist der Thüringer Pakt ein Fanal. Zum einen weil die Sozialdemokraten die mit Alt-Stasi-Leuten durchsetzte SED-Nachfolgepartei ausgerechnet zum 25. Mauerfall-Jubiläum in Ostdeutschland an die Macht zurück bringen wollen. Damit überschreitet die SPD eine bundesrepublikanische Grenze der politischen Integrität, wonach man den Demokratiefeinden von einst den demokratischen Staat nicht mehr überlassen sollte. Dieser Comment hat seit 1945 nach rechts und seit 1989 auch nach links gegolten: Die Täter von gestern sollten nie mehr die Regierenden von morgen werden.
Die Linkspartei ist nun einmal nicht irgendeine unbelastete linke Gruppierung, sie ist die umbenannte SED in direkter Rechtsnachfolge. Dass ausgerechnet diese Partei, deren Erblast düster, bleiern und blutig ist, nun eine Regierung in Ostdeutschland führen soll, das ist für die Opfer der DDR-Diktatur ein Schlag ins Gesicht. Die unsägliche Debatte, ob die DDR nicht doch auch ein Rechtsstaat war, wirkt wie eine Verhöhnung der Mauertoten, der Inhaftierten von Bautzen und der gesamten Bürgerrechtsbewegung von 1989.
Doch die moralische Niederlage ist nur die eine Seite des Fanals. Die andere ist machtpolitischer Natur. Denn die SPD geht das in jeder Beziehung heikle Bündnis völlig ohne Not ein. Sie unterwirft sich einer Partei, die den Stolz der SPD oft gekränkt hat; sie will eine Dreier-Regierung auf eine einzelne Parlamentsstimme Mehrheit bauen: sie verlässt eine erfolgreiche Große Koalition und riskiert innerliche Zerreißproben und Ansehensverlust. Warum eigentlich? Weil es – entgegen aller Beteuerungen – eben doch um eine strategische Weichenstellung geht. Die SPD demonstriert damit, wie sehr sie selbst die so mittige Lieberknecht-Merkel-CDU verabscheut. Und sie öffnet zielsicher das Tor zu einer Rot-rot-grünen Zukunft in ganz Deutschland. Der Tabu-Bruch ist kein Zufall, er ist pure Absicht.
Die SPD hat plötzlich eine Aussicht auf den Kanzlerposten
Sigmar Gabriel mag in Berlin den staatstragenden Vizekanzler und Wirtschaftsversteher geben. Mit dieser Entscheidung fällt er der Großen Koalition ein Stück weit in den Rücken. Denn der Pakt von Erfurt ist ab sofort ein Modell. Er öffnet den Sozialdemokraten eine neue Machtoption, den so dringend ersehnten Ausweg aus der babylonischen Gefangenschaft mit der Union.
Die SPD verschiebt damit schlagartig die Gewichte innerhalb der Bundesregierung. Denn nun ist klar, dass sie jederzeit wechseln könnte. Allein diese latente Option wird in einer Konfliktlage der Bundesregierung die Machtgleichgewichte zu Gunsten Gabriels ändern. Sollte die Union ihm in einem wichtigen Streitthema nicht folgen, so kann er mit rot-rot-grünen Alternativen drohen. Kurzum: Im Poker der Macht hat er einen Trumpf mehr.
Für das Wahljahr 2017 verändert sich damit das Kräfteparallelogramm erheblich. Die SPD hat plötzlich eine zusätzliche Machtoption, ja gar eine echte Kanzlerperspektive. Der CDU hingegen werden die Räume gezielt eng gemacht. Während man selber mit SED-Nachfolgern paktiert, wird der Union drohend untersagt, sich mit Koalitionsgedanken in Richtung AfD zu befassen. Bei diesem Spiel um Machtpotentiale geht es auch um die Fähigkeit zur Stigmatisierung. Wem es gelingt, potentielle Partner des Gegners im öffentlichen Raum zu diskreditieren, der hat die Wahl für 2017 schon halb gewonnen. Darum ist die Ent-Stigmatisierung der Linken für Gabriel ein wichtiger strategische Erfolg. Sein Marmeladeglas ist tiefrot.