Klassische Vize sind sie: mäßiges Charisma, trocken, seriös, mittig. Die linken Flügel ihrer Parteien verachten sie. Und doch könnten Joe Biden und Olaf Scholz noch überraschend für Furore sorgen.
Den Linken ist er mit seinen moderaten Positionen zu mittig. Den Jungen ist er mit seinen 76 Jahren zu alt. Den Reformern ist er zu sehr Establishment. Den Coolen ist er zu hölzern. Joe Biden zieht jede Menge Kritik auf sich. Bei den TV-Debatten wird er am schärfsten attackiert, linke Journalisten verhöhnen ihn regelrecht. Ein “Dinosaurier” der Politik sei er, ein “Yesterday Man”. Tatsächlich gehörte er von 1973 bis 2009 als Vertreter von Delaware dem US-Senat an. Von 2009 bis 2017 war er unter Präsident Barack Obama der 47. US-Vizepräsident. Kann so einer für einen Neubeginn Amerikas nach Donald Trump stehen?
Für die Wähler der Demokraten kann er das sehr wohl. Biden ist trotz aller Kritik der unumstrittene Star der Meinungsumfragen. Er liegt weit vor allen Konkurrenten der Demokratischen Partei. Auch in den wichtigen Vorwahl-Staaten Iowa und New Hampshire liegt er deutlich vorne. Und so fließen ihm nun immer mehr Spendengelder für den weiteren Wahlkampf zu. Ausgerechnet der biedere, bürgerliche, betagte Biden ist plötzlich der haushohe Favorit im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf – er wird zur Verblüffung vieler Journalisten Donald Trump zusehends gefährlich.
Für Olaf Scholz sind das gute Nachrichten. Denn der Vizekanzler und Finanzminister ist so etwas wie der deutsche Joe Biden. Auch ihn halten viele für zu bieder, trocken, uncharismatisch. Ein “Scholzomat” sei er. Auch er wird vom linken Flügel seiner Partei als zu moderat verunglimpft, als “Agenda-Freund” (was im SPD-Sprech so viel heißt, wie: kalter Kapitalist) und als “die zu fleischgewordene Große Koalition” verhöhnt. Auch Scholz hat wenig Freunde unter Journalisten und eher miese Presse. Doch auch bei ihm könnten sich am Ende noch viele die Augen reiben.
Biden wie Scholz haben drei latente Stärken, die ihre linken Kritiker schwer unterschätzen, die aber im Wahlvolk ein politisches Pfund bedeuten:
Erstens verkörpern sie die gesellschaftliche Mitte. Volksparteien, auch ramponierte, beziehen ihre eigentliche Kraft immer aus der Mitte. Dort wuchten die großen Mehrheiten. Helmut Schmidt und Gerhard Schröder waren dem linken SPD-Flügel ein Gräuel, beim breiten Bürgertum aber eben beliebt. Nur mittige Macher wie sie konnten für die SPD Kanzlerschaften erringen, dezidiert Linke hätten nie eine Mehrheit gefunden. Daher sind auch heute die SPD-Wahlchancen mit Scholz viel größer als mit Kevin Kühnert oder Ralf Stegner.
Das gilt auch für die USA. Linke Journalisten und wechselheiße Parteifunktionäre feiern Bernie Sanders, Elizabeth Warren oder Kamala Harris. Doch die breite Wählerschaft liebt eher den Mann der Mitte. Biden erklärt dazu, die große Mehrheit der Demokraten stehe “mitte-links”. “Das ist da, wo ich bin. Was es nicht ist, ist ganz links.”
Zweitens nutzt beiden Politikern ihre scheinbare Schwäche des fehlenden Temperaments. Biden wie Scholz verkörpern ein unterschätztes Gut politischer Wirkmacht: Ruhe und Gelassenheit. Gerade in aufgeregten Zeiten wird das Katholisch-Verwurzelte (Biden) oder das Hanseatisch-Balancierte (Scholz) zu einer Qualität. Je lauter in den USA wie in Deutschland das Geschrei der gesellschaftlichen Polarisierung erschallt, desto eher werden Leitfiguren leiser Souveränität geschätzt. Angela Merkel hat von diesem Effekt oft profitiert. Wenn nun Biden wie Scholz zuweilen wie Anästhesisten der Macht agieren, könnte auch ihnen das noch nutzen. Denn beide müssen tiefe Verwundungen heilen – Scholz die der ausblutenden SPD, Biden die der verletzten Seele einer gespaltenen Trump-Nation.
Drittens verfügen Biden wie Scholz über Erfahrung und Regierungsaura. Auch das sind uncoole Kategorien für ein oberflächiges Showbusiness-Politikverständnis. Für die bürgerliche Mitte aber sind Kompetenz und Erfahrung wichtige Werte. So steht Joe Biden für das beinahe nostalgische Versprechen, zur politischen Seriosität zurückzukehren. Scholz könnte die Verheißung adressieren, die politische Normalität der alten Bundesrepublik zurückzubekommen. Beide verkörpern womöglich jenen Trend, der derzeit ohnedies Zeitgeister verblüfft: die neue Biederkeit. In den USA jedenfalls sind die Signale eindeutig. Laut einer Umfrage von Fox News, dem Trump-freundlichen News-Kanal, würde Joe Biden Donald Trump derzeit bei Präsidentschaftswahlen schlagen: Und zwar haushoch, mit 50 zu 38 Prozent.