Die Nahles-Reformen entgleisen

Es ist als gebe es Freibier. Ein regelrechter Run setzt ein. Schon 163.000 Anträge auf eine vorgezogene Rente mit 63 sind bereits gestellt. Die Behörden kommen mit der Bearbeitung kaum nach, doch 110.000 Anträge sind schon genehmigt, und die Zahl der Antragsteller steigt rapide an.

Damit stürzt sich Deutschland in die größte Frühverrentungsaktion seiner Geschichte. Ausgerechnet jetzt, da Fachkräfte knapp sind und die Wirtschaft jeden (vor allem die Erfahrenen) brauchen kann. Und just hinein in den massiven Alterungsschub der Gesellschaft, der uns eher länger als kürzer arbeiten lassen müsste.

Die Nahles-Rentenreform wirkt wie eine Vollbremsung für das agenda-dynamische Deutschland. Vor allem aber wird sie dramatisch teuer. Viel kostspieliger als die Sozialministerin es versprochen hatte. Ursprünglich hatte die Regierung angenommen, dass es 50.000 zusätzliche Frührenten pro Jahr geben wird.

Da wir in diesem Jahr zwei Jahrgänge haben, die den Antrag stellen können, wären es 100.000 nach Nahles’ Rechnung. Stattdessen haben wir schon jetzt 163.000. Und in den kommenden Jahren werden es deutlich mehr – wegen der geburtenstarken Jahrgänge.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung geht von spektakulären 300.000 bis 450.000 Antragstellern pro Jahr aus. Optimistischere Rentenexperten rechnen „nur“ mit 100.000 bis 150.000 zusätzlichen Frühverrentungen. Auch dies wäre doppelt soviel wie die Regierung anfangs unterstellt hat.

Damit sind auch alle Finanzkalkulationen Makulatur. Die Rente mit 63 wird ein Multi-Milliardengrab. Selbst die Deutsche Rentenversicherung hat schon Ende 2013 vor Mehrausgaben im Bereich von vier Milliarden Euro pro Jahr gewarnt, während der Gesetzentwurf nur runde zwei Milliarden Euro nennt. Reinhold Schnabel, Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen, schlägt Alarm, die Bundesregierung habe nicht nur die Zusatzausgaben viel zu niedrig eingeschätzt:

„Die Einnahmeausfälle waren in der Zahl von rund zwei Milliarden für die Rente mit 63 nicht enthalten. Aber wer die Rente mit 63 in Anspruch nimmt, hat in der Regel eine Beschäftigung. Beim Wechsel in die Rente fallen auch die Löhne weg und somit die Beiträge zur Rentenversicherung. Weitere Ausfälle haben wir bei der Kranken-, Pflege und Arbeitslosenversicherung – und Steuerausfälle kommen auch noch hinzu“. Sein Fazit: „Die Rente ab 63 ist ein Programm zur Senkung der Beschäftigung.“

„Es wird eine Reform der Reform geben“

Die Rente ab 63 wird weit überwiegend von gut qualifizierten Männern beansprucht, häufig Fachkräfte die eine duale Berufsausbildung absolviert haben, die sich als Techniker oder Meister weiterentwickeln konnten. Damit trifft der Frühverrentungsschub mitten hinein ins Herz der deutschen Leistungsträgerschaft. Konjunkturexperten sehen dadurch und die obendrein beschlossenen Mindestlöhne eine massive Belastung für den Aufschwung in Deutschland.

Die politische Klasse in Berlin weiß inzwischen selber, dass sie 2014 den Agenda-Aufschwung verfrühstückt und die deutsche Wettbewerbsfähigkeit geschwächt hat. Es wird früher oder später eine Reform der Reform geben müssen, schon weil die demographische Entwicklung das erzwingt.

Anders als die Große Wohltäter-Koalition hat die Bevölkerung das längst begriffen. Nach einer aktuellen Forsa-Umfrage hält es eine überwältigende Mehrheit für richtig, dass die Menschen in Zukunft auch über die gesetzliche Rentenaltersgrenze hinaus arbeiten können.

Genau hier liegt die Chance für eine gesichtswahrende Korrektur des Milliardenfehlers. Die Einführung einer Flexi-Rente könnte das starre Rentensystem insgesamt öffnen und finanziell entlasten. Die starren Zwangsaltersgrenzen würden endlich fallen.

Wer früher aufhören will, sollte das dürfen, bei entsprechenden Abschlägen – und umgekehrt. Millionen Deutsche würden gerne auch nach dem Erreichen der Altersgrenze weiter im Job bleiben – und zwar, weil die Arbeit ihnen Spaß macht. Denn Arbeit bedeutet für viele Menschen auch Teilhabe, Anerkennung und Lebensfreude.

Mit der Flexi-Rente könnte die entgleisende Nahles-Reform noch gerettet werden. Wenn sie ein klares Zeichen setzt, dass man die Bereitschaft zur Weiterarbeit im hohen Alter auch honoriert – und nicht nur das frühzeitige Nichts-mehr-tun. Nach der Rentenreform ist vor der Rentenreform.

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