Die Demut verliert mit dem Papst einen Sohn
Was war das für ein Pontifikat? Ein gütiger Papst, ein gescheiterter Reformer? Seine größte Hinterlassenschaft liegt weit jenseits der Politik und betrifft eine seltene Tugend.

Für die einen war er der erste Lateinamerikaner im Papstamt. Für die anderen galt er als populärer Bettelmönch und sozial engagierter Freund der Armen. Manche sahen in ihm den konservativen Jesuiten, andere den liberalen Modernisierer, als gescheiterter Reformer wird er kritisiert, als freundlicher Versöhner gelobt. Doch das eigentliche Vermächtnis von Papst Franziskus liegt in einer ganz anderen, ganz und gar nicht politischen Dimension.
Franziskus war vor allem ein Mann der Demut. Er hat diese Tugend nicht bloß als ethische Pflicht und äußerliche Façon seines Hirten-Lebens gepflegt. Er hat Demut verkörpert. Sie war ihm keine bloß intellektuelle Einsicht, etwa in der aristotelischen Erkenntnis, dass Tugenden den Weg zu einem geglückten Leben ebnen. Demut war ihm auch mehr als die kleine Schwester der großen christlichen Fixsterne von Glaube, Liebe und Hoffnung. Er hat die Demut aus dem tiefen Brunnen christlicher Identität heraufgeholt und sie in einer besonderen Weise zu seinem Selbst gemacht.
Demut ist eigentlich eine Provokation für das Selbstverständnis des modernen, vorrangig selbstbewussten Menschen: Der Demütige ist freiwillig dienend, er hat „Mut zum Dienen“, nicht weil er keine andere Wahl hätte, sondern weil er es für richtig hält. Das ist eine unmodische Haltung. Denn schon die Aufklärung entriss den Menschen der himmlischen Hand Gottes und damit seiner existenziellen Hinwendung zu einer Demut vor Gott. Nietzsche diffamierte die Demut gar als Sklavenmoral, als Haltung eines kriechenden Wurms, der nichts anderes im Sinn habe, als nicht getreten zu werden. Moderne Emanzipationsbewegungen betonten eher die Autonomie des Einzelnen als den Mut, jemand anderem zu dienen.
Demut als „Tugend aus Granit“
Die Demut ist seither nie mehr richtig populär geworden. Und doch macht sich etwas breit, das der kanadische Philosoph Charles Taylor schon in „Unbehagen an der Moderne“ beschrieb: Das Gefühl, die Emanzipation von einer höheren Instanz habe nicht nur zur Befreiung des Menschen geführt, sondern auch eine Lücke hinterlassen, einen Mangel an moralischer Verbindlichkeit. Der „Spiegel“ diagnostizierte kurz vor dem Amtsantritt von Franziskus eine stille „Wiederkehr der Demut“ in der Gesellschaft: „Nach der erfolgreichen Selbstermächtigung steigt der Wunsch nach einer neuen Selbstverpflichtung gegenüber Werten wie Solidarität, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit. Der Wunsch nach einer neuen Form von Demut.“
Genau diesem Wunsch hat Franziskus eine Gestalt gegeben. Und er hat Demut gezielt thematisiert für eine Welt, der diese Kategorie zu entschwinden drohte. Demut, so erklärte es Franziskus vor einem Jahr, das sei das „Gefühl des eigenen Kleinseins“. Genau darauf zielte Jesus mit seiner ersten Seligpreisung: „Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,3). „Es ist die erste Seligpreisung, weil sie die Grundlage für die folgenden ist: Sanftmut, Barmherzigkeit, Reinheit des Herzens entspringen ja aus diesem inneren Gefühl des Kleinseins. Die Demut ist das Tor zu allen Tugenden.“
Demut sei „eine Tugend aus Granit“, sagte Franziskus. Sie sei die Quelle des Friedens. Zwar tauche die Demut, wie der Papst einräumte, in den offiziellen kirchlichen Listen der Kardinal-Tugenden gar nicht prominent auf. Aber dennoch bilde sie „das Fundament des christlichen Lebens“. „Sie ist der große Gegenspieler des tödlichsten aller Laster, des Hochmuts. Während Stolz und Hochmut das menschliche Herz aufblähen und uns größer erscheinen lassen, als wir sind, rückt die Demut alles wieder ins rechte Licht: Wir sind wunderbare, aber begrenzte Geschöpfe mit Tugenden und Schwächen.“
Franziskus empfahl ein einfaches Rezept in Demutsübung: den Sternenhimmel betrachten. Dann rücke alles wieder ins rechte Maß. „Wie es der Psalm sagt: ‚Wenn ich den Himmel sehe, das Werk deiner Finger, den Mond und die Sterne, die du gemacht hast: Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ Die Größe dieses Papstes liegt in seiner Umarmung des Kleinsten. Franziskus war ein Sohn der Demut.