Der Druck auf den DFB-Präsidenten steigt und Rücktrittsforderungen mehren sich. Die Affäre um Mesut Özil ist der Auslöser einer schon länger sichtbaren Präsidentenkrise. Reinhard Grindel ist der gefühlte Christian Wulff des deutschen Fußballs.
Es war an einem Dienstagabend im September 2009, da die Politiker Christian Wulff und Reinhard Grindel im Kurhaus von Bad Fallingbostel Wahlkampf für die CDU machten. Das Motto des Abends lautete: “Im Sturm kommt es auf den Kapitän an.” Niemand konnte an diesem Abend ahnen, dass beide Niedersachsen einmal Präsidenten werden würden, dass beide aus migrationspolitischen Gründen unter Druck geraten sollten und für beide der Wahlspruch mit dem Kapitän im Sturm eine fatale Bedeutung erlangen könnte.
Der jetzige Sturm um Reinhard Grindel braut sich zum Orkan zusammen, und der Kapitän macht keine gute Figur. Nach dem peinlichen Ausscheiden der Nationalmannschaft bei der WM, dem Gezerre um die Bundestrainerfrage und der giftigen Affäre um Mesut Özil hagelt es Rücktrittsforderungen: “Schlingerkurs”, “miserables Krisenmanagement”, “Sündenbock-Intrigen”, “Amateurhilflosigkeit” sind noch die harmlosen Kritiken. Ausgerechnet auf dem politischen Parkett, also just dort, wo der fußballferne Funktionär seine Kernkompetenz hat, gerät Grindel schwer ins Rutschen. Er wird sogar als verkappter Rechtspopulist dargestellt, der der Integrationsarbeit des deutschen Fußballs schweren Schaden zugefügt habe. Beflissen brandmarkt die politische Linke den ehemaligen CDU-Kollegen Grindel als einen migrationspolitischen Hardliner. Alte Wahlkampf- und Bundestagsreden werden ausgegraben, um das Bild des rechten Multi-Kulti-Hassers zu dämonisieren.
Einerseits sind diese Attacken auf Grindel unfair und überzogen, weil er mitnichten Rassist oder Scharfmacher ist, weil er für manches Problem (etwa das fußballerische Scheitern in Russland) oder Oliver Bierhoffs ungeschickte Interviews wenig kann. Vor allem aber gerät aus dem Fokus, dass die Hauptschuld an der Affäre Özil beim unsäglichen Verhalten Özils selbst liegt.
Andererseits aber verrät die anschwellende Kritik an Grindel etwas anderes: Er ist in Wahrheit schon vor der Özil-Affäre ein angeschlagener Präsident gewesen. “Grindel war und ist der schlechteste Präsident, den ich je erlebt habe”, sagt der frühere DFB-Mediendirektor Harald Stenger unverblümt. Tatsächlich ist Grindel ein Seiteneinsteiger in dem Amt, ihm fehlt Verwurzelung, Netzwerk, Erfahrung in der Fußballwelt. Der Profipolitiker hat keine Hausmacht und keinen Stallgeruch, er gilt als Funktionärs-Bürokrat mit dürftiger Bilanz: Die Aufarbeitung der zwielichtigen Vorkommnisse und dubiosen Geldgeschäfte rund um die WM 2006 kommen kaum voran. Und wenn die noch dubiosere Korruption bei der Fifa aufgeklärt werden soll, dann drückt er beide Augen zu. So wurden die beiden Chef-Ethiker Hans-Joachim Eckert und Cornel Borbély von der Fifa-Spitze kurzerhand rausgeworfen, um nicht weiteren Staub aufzuwirbeln. Grindel stimmte der Säuberungsaktion zu und kümmerte sich lieber um seine eigene Wahl ins Fifa-Council und ins Exekutivkomitee der Europäischen Fußball-Union.
Grindel hat seit seiner Amtsübernahme gern von Reform und Transparenz gesprochen, tatsächlich aber hat er sich um lukrative Posten in intransparenten Gremien gekümmert. Doch er enttäuschte auch bei der miserablen Beziehung des DFB zu den deutschen Fußballfans. Hier stilisierte sich der Präsident anfangs als ein Freund der Stadionkurven. Inzwischen aber ist er dort zu einer Unperson geworden. Das letztjährige Pokalfinale in Berlin wurde gar zu einer Massendemonstration gegen den DFB und seinen Präsidenten. Millionen Zuschauer erlebten minutenlange Wechselgesänge “Scheiß DFB” und “Fußballmafia DFB”. Zahlreiche Transparente übten scharfe Kritik am Fußballbund, es lag – jenseits der Vereinszugehörigkeit – eine Massenstimmung der Verachtung gegenüber den Funktionären in der Luft.
Der kollektive Ärger über Grindel & Co. bezieht sich auf einen DFB, der das Herz des Fußballs verkauft, die Kommerzialisierung vorantreibt und aus dem Sport ein Showgeschäft machen will. Während er Helene Fischer in der Halbzeitpause des Finales singen ließ, wurden echte Fußballfans mit Wunderkerzen von Grindel als kriminelle Pyromanen attackiert. Ob DFB-Multimillionenbauten in Frankfurt oder entrückte Angeber-Slogans wie “Best Never Rest” – dies alles vertieft den Eindruck, dass der DFB Bodenhaftung und Bescheidenheit verliert.
Heute ist Reinhard Grindel der gefühlte Christian Wulff des deutschen Fußballs. Kleine Peinlichkeiten und große Selbstgefälligkeit addieren sich mit einem politischen Fehltritt im Minenfeld der Migrationspolitik zu einer offenen Akzeptanzkrise.
Grindel würde den Sommer als Präsident kaum überstehen, wenn nicht im September die Entscheidung über die EM 2024 fallen würde. Ausgerechnet Deutschland und die Türkei sind die einzig verbliebenen Konkurrenten. Die EM-Bewerbung ist das Prestigeprojekt des DFB. So kurz vor der Entscheidung der Uefa kann es sich der Fußballbund nicht erlauben, seinen Präsidenten zu feuern. Der Eklat würde das Projekt zunichtemachen. Grindel ist erst kürzlich ins Exekutivkomitee der Uefa gewählt worden, nur er kann dort die Mehrheiten für Deutschland mobilisieren. Und so rettet die EM 2024 den angeschlagenen Präsidenten des WM-2018-Desasters. Sollten aber ausgerechnet Erdogan und die Türkei die EM zugesprochen bekommen, dann wäre auch Grindel im Amt nicht mehr haltbar. Im Sturm kommt es eben nicht immer nur auf den Kapitän an – manchmal auch auf die Flotte.