20 Jahre Cicero: "Das war auch eine Sehnsucht, ein Journalistentraum"

 

2004 startete in Berlin „Cicero“, das „Magazin für politische Kultur“. Gründer Wolfram Weimer erzählt im Interview über den Anfang und die Ziele des intellektuellen Leitmediums der bürgerlichen Elite in Deutschland. 

 

TheEuropean: Warum haben Sie das Magazin ausgerechnet „Cicero“ genannt? Gab es keinen besseren Namen?

Wolfram Weimer: Wir hatten eine Zeitlang auch mit dem Namen „Punkt“ geliebäugelt. Dazu gab es auch sehr schöne grafische Entwürfe einer Münchner Art-Direktorin. Aber für ein intellektuelles Forum war uns der Name doch zu knapp und griffig. Als die Gerüchte kursierten, dass wir ein neues nationales Magazin planten, gaben wir dem Projekt aus Spaß einen Erl-Namen und sprachen nurmehr von „Parzival“, dem wirren Wahrheits- und Gralssucher. Aber da wussten wir schon, dass es am Ende „Cicero“ werden würde. Der Name war mit Bedacht gewählt: Cicero ist der Urvater der politischen Debatte und geistiger Verfechter der „res publica“ – und Kämpfer gegen die Entartung der Macht. Er verteidigte das demokratische Gemeinwesen vor den egoistischen Machtinteressen der Caesaren. Cicero hatte dagegen keine Armee gesetzt und keine Ideologie, sondern die Macht des Wortes, der Freiheit und der Debatte. Unser Magazin sollte die Magie der Debatte entfalten und an die geistige Kraft der Demokratie appellieren. „Cicero“ war daher für uns ein programmatischer Name. In einer Marktstudie kam dann verblüffenderweise ein Vorteil des Namens heraus, an den wir gar nicht gedacht hatten. Kurze Namen mit drei verschiedenen Vokalen haben offenbar einen hohen Wiedererkennungswert und sind besonders merkfähig. Das hat uns amüsiert, aber in der Namensfindung auch irgendwie bestätigt, obwohl wir insgeheim dachten, die Merkfähigkeit liege bei den meisten wohl weniger an den Vokalen als an der Erinnerung an den Lateinunterricht.

Wer war bei der Gründung dabei?

Die Idee, für Deutschland ein intellektuelles Leitmagazin für die bürgerliche Mitte zu gründen, stammt von mir. Ich war seit meinem Studium in den USA großer Fan von „New Yorker“ und „The Atlantic“. In England gab es den „Spectator“, in Frankreich den „Nouvel Observateur“ und „Point“ ­– in Deutschland hatten wir so ein Format nicht wirklich. Die ersten Konzepte haben meine Frau Christiane (Goetz-Weimer) und ich diskutiert, in Küchensitzungen entwickelt, Positionierungspapiere verfasst, mit Autoren gesprochen und erste Seiten gescribbelt. Dann bin ich mit einer Präsentation auf Investorensuche losgezogen, erst vergeblich in Deutschland, dann aber wurde ich in Zürich beim Ringier-Verlag fündig. Bei der Entwicklung half uns zudem die weitsichtige Kuenheim Stiftung in München mit Rat, Tat und Geld. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis wir alles so weit hatten, dass wir uns nach der Gründung einen Mitarbeiterstab suchen konnten.

Rückblickend klingt das alles so leicht. War es das wirklich?

Nein, überhaupt nicht. In so einer Findungsphase zweifelten die meisten an unserer Idee, wir selbst natürlich auch. Vor allem weil damals die klassischen Printmedien ihre erste tiefe Krise durchlitten, glaubte kaum jemand an eine neue, gedruckte Zeitschrift. An ein anspruchsvolles Intellektuellenmagazin schon gar nicht. Am häufigsten bekamen wir zu hören, wir seien „mutig“, das war die höfliche Umschreibung für verrückt. Und wenn Sie dann mit drei kleinen Kindern nach dem täglichen Brot schauen müssen, wird man schon nervös. Aber „Cicero“ war für uns mehr als nur ein Job oder ein Projekt. Es war auch eine Sehnsucht, ein Journalistentraum – einmal im Leben ein völlig neues Magazin erfinden, auf den Markt bringen und dem geistigen Diskurs der Nation einen feinen Platz bieten. Also haben wir es gewagt.

Gingen Sie selbst ins unternehmerische Risiko? Waren Sie denn beim Ringier-Konzern kein angestellter Chefredakteur mehr?

Wir wählten von Anfang an das unternehmerische Risiko. Meine Frau hatte schon ein Jahrzehnt zuvor – nach Ihrer Zeit als „FAZ“-Redakteurin und im Gründungsteam der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ – den Sprung in die Selbständigkeit gewagt. Als ich noch bei der „FAZ“ Madrid-Korrespondent und später beim Springer-Verlag Chefredakteur von „Welt“ und „Berliner Morgenpost“ war, baute sie zunächst eine Ranking-Agentur (Campo-Data), dann einen kleinen Verlag (CH. GOETZ VERLAG) auf. Cicero wurde dann zu unserem gemeinsamen Durchbruch als Unternehmer und Verleger. Wir fanden mit dem Ringier-Konzern ein Modell, so dass wir als selbständige Produktionsgesellschaft die Geschäfte von „Cicero“ in Eigenregie führten – ähnlich wie TV-Produktionsgesellschaften das heute regelmäßig tun. Wir wuchsen damit schlagartig zu kleinen Medienunternehmern mit Angestellten, die „Cicero“-Mitarbeiter wurden alle bei uns beschäftigt, nicht beim Schweizer Konzern. Für Ringier hatte dieses Modell den Vorteil, dass sie keine Personal- und Organisationsrisiken eingehen mussten. Wir hatten im Gegenzug freie Hand beim Aufbau des neuen Magazins. Insgesamt hat sich das für beide Seiten ausgezahlt. Wir führten „Cicero“ in diesem Modell zu einem großen publizistischen Überraschungserfolg.

Wie haben Sie die erste Redaktion formiert?

Meine Frau und ich suchten einen kleinen Kreis von herausragenden Journalisten. Drei Personen spielten dabei eine zentrale Rolle. Der charakterlich wie journalistisch feine Nachrichtenchef der „Welt“, Markus Hurek, der titelgekrönte und schelmisch gebliebene Wirtschaftsjournalist Wolfgang Glabus und die blitzgescheite Schriftstellerin Christine Eichel gehörten dazu. Aber auch kreative Journalisten wie Peter Littger und Till Weishaupt oder integre Vordenkerinnen wie die Ex-Chefredakteurin der „Jüdischen Allgemeinen“, Judith Hart, spielten wichtige Rollen. Hurek war in der Redaktion die wichtigste Figur der Anfangsjahre. Er ist ein genialer Blattmacher, ein wacher politischer Kopf und Nachrichtenspürer, dazu ein visuell begnadeter Journalist. Als ich anfangs irrlichterte, bei einem Intellektuellenmagazin sei die Optik wohl nicht entscheidend, belehrte er mich eines Besseren. Wir machten „Cicero“ dann gezielt zu einem visuellen Fest mit hochwertiger Fotografie, Grafik, Kunst und Illustration. Wir luden prominente Künstler ein, uns die Cover zu gestalten. Alles zahlte am Ende ein auf das Versprechen, hier breche ein besonders kultiviertes, feinsinniges Politikmagazin auf.

Was war das Besondere an „Cicero“?

„Cicero“ habe ich als „Magazin für politische Kultur“ positioniert. Bewusst also an der Schnittstelle von Macht und Geist, als ein kulturelles Reflektorium der Macht. Es wurde das erste meinungsbildende Politikmagazin aus der neuen, wiedervereinigten deutschen Hauptstadt. Schon nach wenigen Jahren war es zu Deutschlands größtem Debattenmagazin herangewachsen und erreichte monatlich 440.000 Leser. „Cicero“ versammelte die klügsten Autoren und besten Fotografen des Landes. Es war ein explizites Gegenstück zur Verflachung der Medienlandschaft. Das Magazin wirkte wie eine Demonstration für Qualitätsjournalismus. Anstatt auf Boulevard und Nutzwert setzten wir auf Salon und Denkwert.

Und politisch war es bewusst liberal-konservativ positioniert…

Es war zunächst einmal klug positioniert. „Cicero“ haben wir von Anfang an als offenes Debattenmagazin angelegt. Es sollten Liberale, Konservative und Linke, Freigeister aller Richtungen darin schreiben. Für uns galt weniger die Haltung des Autors als die Klugheit und Präzision der vorgebrachten Argumente. Schon damit aber öffneten wir den Diskursrahmen fühlbar. Denn das intellektuelle Bürgertum der politischen Mitte hatte bis dahin zu wenig Heimat. Die Medien insgesamt waren in Deutschland zu weit linksgeneigt, in den Denkfiguren der Linken auch ziemlich eingefahren. Linksliberale hatten vor allem „Die Zeit“ – aber was hatten eigentlich klassische Liberale? Und Konservative? „Cicero“ füllte darum eine gewisse geistige Lücke. Rechts, gestrig oder national sollte es aber nie werden. Ressentiments oder Ideologien lehnten wir so vehement ab wie die AfD. Wir wurden ein Medium der weltoffenen, politischen Mitte. Wir waren immer für Europa und für den liberalen Diskurs der offenen Gesellschaft.

Wie sehen Sie rückblickend auf die „Cicero“-Affäre?

Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily ärgerte sich über einen Artikel des Kollegen Bruno Schirra in der Aprilausgabe des Jahres 2005. Der Artikel ging um den Top-Terroristen Al-Zarkawi und zitierte politisch fragwürdige Umstände aus einem Auswertungsbericht des BKA. Schily witterte Geheimnisverrat und suchte vergebens die Quelle in seinem Ministerium. In seinem Verfolgungsfuror trieb er die Staatsanwaltschaft zu einem Ermittlungsverfahren gegen Schirra und mich als Chefredakteur wegen angeblicher Beihilfe zur Verletzung des Dienstgeheimnisses. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens kam es zu einer mit Gewehren und Sturmkommando flankierten Durchsuchung der „Cicero“-Redaktionsräume, dabei wurden unsere Computer durchforstet und eine Festplatte beschlagnahmt, auf der man Kontaktdaten zur Quelle vermutete. Der Vorgang war ein Skandal. Nur weil ein Minister wissen wollte, wer von seinen Leuten geplaudert hatte, missachtete er Grundregeln der Pressefreiheit. Wir alarmierten sofort die Medienöffentlichkeit, eine gewaltige Welle der Berichterstattung brach los. Viele ältere Kollegen fühlten sich an die „Spiegel“-Affäre erinnert. Wir waren noch am gleichen Abend in der „Tagesschau“. Wir legten gegen die Razzia Beschwerde ein, weil wir den Quellenschutz grundsätzlich gefährdet sahen, wenn Schily damit durchgekommen wäre. Einen verfassungswidrigen Eingriff in die Pressefreiheit sah das Landgericht Potsdam zunächst aber nicht, also zogen wir nach Karlsruhe. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschied schließlich zu unseren Gunsten – und damit für Quellenschutz und Pressefreiheit. Das Bundesverfassungsgericht stellte zunächst fest, dass die Pressefreiheit auch den Schutz vor dem Eindringen des Staates in die vertraulichen Presseräume umfasse. Zudem stellte es fest, dass die Durchsuchung der Presseräume eine Störung der redaktionellen Arbeit darstelle und diese einschüchternd wirken könne, weshalb sie auch einen verfassungswidrigen Eingriff in die Pressefreiheit darstelle. Auch das Landgericht bekam seine Rüge. Das „Cicero“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts gilt seither als richtungweisend. Mit Otto Schily habe ich auf Einladung von „Cicero“ anlässlich des zehnten Jahrestags der Durchsuchung noch einmal über die Affäre gesprochen. Er ist in der Sache uneinsichtig geblieben. Aber der Skandal und das Urteil haben dem Quellenschutz in Deutschland seither sehr geholfen. Die Versuchung der Staatsmacht, Redaktionen einzuschüchtern und Whistleblower zu verfolgen, ist deutlich eingehegt worden. Für „Cicero“ hatte die Affäre auch etwas Gutes – das Magazin wurde schlagartig in Deutschland bekannt und als Quelle für besonders interessante Geschichten sichtbar.

Wie sehen Sie die Entwicklung von „Cicero“ heute?

Als ich „Cicero“ in andere Hände gab und Chefredakteur von „Focus“ in München wurde, hatte ich natürlich Sorge, was mit „meinem“ Blatt passieren würde. Aber die Nachfolger haben es sorgsam, ja liebevoll gehegt und belebt. Michael Naumann gab dem Blatt kurzzeitig eine gewisse sozialdemokratische Note, aber auch er war ein feiner Homme de Lettres und mehr an geistiger Qualität als an parteilicher Identität interessiert. Danach war Christoph Schwennicke als Chefredakteur ein Glücksfall für „Cicero“. Er verkörperte den liberalen, politisch versierten, klugen Kern von „Cicero“ und seiner journalistischen Unbestechlichkeit. Und auch unter Alexander Marguier und meinem Verlegerkollegen Dirk Notheis positioniert sich „Cicero“ derzeit ganz stark als eine kluge, bürgerliche Stimme der Berliner Republik. Vor allem als ein Ort autonomen Denkens. Ich bin zum 20-jährigen Jubiläum sehr zufrieden mit meinem „Cicero“.

Was bedeutet der „Cicero“-Erfolg – politisch wie persönlich?

Für Deutschland ist „Cicero“ eine zwar kleine, aber wichtige Lichtung der kulturellen Selbstvergewisserung und politischen Willensbildung. Gerade in Zeiten, da Rechts- und Linkspopulisten das Gefüge unserer Republik erschüttern, da Despoten von Peking bis Moskau, von Ankara über Teheran und Riad die europäische Idee von Freiheit, Menschenrechten, Demokratie attackieren, da Europa auch als geistige Formation in die Defensive gerät, sind Foren der liberalen Intelligenz wichtig. Für mich persönlich war „Cicero“ eine geradezu wunderbare Fügung. Ich hatte viel Glück und manchen Erfolg in meiner Laufbahn, mein Journalistenleben war reich, interessant, mit lehrreichen Niederlagen und allerlei Erfolgen versehen. Korrespondent der „FAZ“ zu sein, war ein helles Vergnügen. Chefredakteur von „Welt“ und „Focus“ zu sein, war ein Privileg. Aber „Cicero“ zu gründen – das fühlte sich wie eine Krönung an. Mit „Cicero“ habe ich den tiefen Reiz des Eigenen entdeckt. Wenn man etwas völlig Neues aus sich heraus schafft, dann ist das erfüllender als hohe Karriereposten. Damals starteten meine Frau und ich als kleine Verleger. Da sind wir auf den Geschmack gekommen, Verleger zu werden, geistige Werke zu orchestrieren und mit Journalismus Dinge zu wagen, die andere für verrückt halten.

Wolfram Weimer leitet zusammen mit seiner Frau Christiane Goetz-Weimer die Weimer Media Group (WMG) – in diesem Verlag erscheint auch TheEuropean.de. Zu den Aktivitäten von WMG gehört neben anderen Events der alljährliche Ludwig-Erhard-Gipfel, der diesen Monat erneut am Tegernsee stattfindet.

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